Märchen des Monats – Dezember

Himmel und Hölle

Ein mächtiger Samurai beschloss, seine spirituelle Bildung zu vertiefen.

So machte er sich auf, einen berühmten buddhistischen Mönch zu suchen, der als Einsiedler hoch in den Bergen lebte.

Als er ihn gefunden hatte, forderte er: „Lehre mich, was Himmel und Hölle sind!“ Der alte Mönch sah langsam zu dem Samurai auf, der über ihm stand, und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Dich lehren?“, kicherte er. „Du musst sehr dumm sein, wenn du denkst, ich könnte dich etwas lehren. Schau dich an, du bist unrasiert, du stinkst, und dein Schwert ist wahrscheinlich verrostet.“

Der Samurai geriet in Wut. Sein Gesicht wurde rot vor Zorn, als er sein Schwert zog, um dem lächerlichen Mönch, der da vor ihm saß, den Kopf abzuschlagen.

„Das“, sagte der Mönch ruhig, „ist die Hölle.“ Der Samurai ließ sein Schwert fallen.

Dass dieser Mönch sein Leben riskiert hatte, um einen völlig Fremden etwas zu lehren, erfüllte sein Herz mit Liebe und Mitgefühl. Tränen stiegen in seine Augen.

„Und das“, sagte der Mönch, „ist der Himmel.“

Märchen des Monats – Februar

Hedley Kow
Da war einmal eine alte Frau, die verdiente sich ihren armseligen Lebensunterhalt, indem sie für die Bauersfrauen rund um das Dorf, in dem sie lebte, Botengänge und dergleichen machte. Es war nicht viel, was sie damit verdiente, aber mit einem Teller Fleisch in einem Haus und einer Tasse Tee in einem anderen schaffte sie es, so irgendwie durchzukommen, und immer schaute sie so fröhlich drein, als ob es ihr in dieser Welt an nichts fehlte.

Nun, als sie an einem Sommerabend heimwärts trottete, stieß sie auf einen großen schwarzen Topf, der am Wegrand lag. Sie blieb stehen, um ihn anzuschauen, und sagte: »Also das da wäre genau das Richtige für mich, wenn ich etwas hineintun möchte! Aber wer kann das hier liegengelassen haben?« Und sie sah sich rings um und meinte, der, dem der Topf gehörte, könnte nicht weit weg sein. Aber sie konnte niemanden sehen. »Vielleicht hat er ein Loch«, sagte sie nachdenklich, »ei ja, das wird’s sein, weshalb sie ihn hier liegengelassen haben, Schätzchen. Aber dann müsste er gut dazu taugen, darin eine Blume ans Fenster zu stellen. Ich mein, ich nehm ihn mit nach Hause, für alle Fälle.« Und sie krümmte ihren alten steifen Rücken und hob den Topfdeckel auf, um hineinzusehen. »Lieber Himmel!« rief sie und tat einen Satz auf die andere Seite des Weges, »wenn der nicht randvoll mit Goldstücken ist!«

Für eine Zeitlang konnte sie gar nichts anderes machen, sie ging nur immerfort um ihren Schatz herum und staunte das gelbe Gold an und wunderte sich über ihr großes Glück und sagte jeden zweiten Augenblick zu sich selbst: »Na, ich komme mir aber jetzt wirklich reich und großartig vor!« Aber sie begann alsbald zu überlegen, wie sie den Topf mit sich nach Hause nehmen könnte, und sie sah keinen anderen Weg, als das eine Ende ihres Halstuches an ihm festzubinden und ihn so hinter sich die Straße entlang zu ziehen.

»Es ist sicher bald dunkel«, sagte sie zu sich, »und die Leute werden nicht sehen, was ich mir heimbringe, und so habe ich die ganze Nacht für mich zum Nachdenken, was ich damit machen werde. Ich könnte ein großes Haus und all so was kaufen und wie die Königin selbst leben, und ich müsste den ganzen Tag keinen Handgriff tun, nur neben dem Feuer sitzen mit einer Tasse Tee. Oder vielleicht werde ich ihn dem Pfarrer geben, damit er ihn für mich aufbewahrt, und ich hole mir nur dann etwas, wenn ich etwas brauche; oder vielleicht werde ich ihn einfach am Gartenende in einem Loch vergraben und nur ein bisschen auf den Kaminsims legen, zwischen die porzellanene Teekanne und die Löffel – so als Verzierung. Ach, ich komme mir so großartig vor, ich kenne mich selbst nicht mehr richtig!«

Mittlerweile war sie vom Nachziehen einer so schweren Last schon ziemlich müde geworden, und so blieb sie stehen, um einen Augenblick auszuruhen, und drehte sich um, um sich zu vergewissern, dass ihr Schatz in Sicherheit war. Aber als sie ihn anschaute, war das keineswegs ein Topf mit Gold, sondern ein großer Klumpen schimmerndes Silber. Sie starrte ihn an, rieb sich die Augen und starrte ihn wieder an, aber sie konnte ihn nicht dazu bringen, nach irgendetwas anderem auszusehen als nach einem großen Klumpen schimmerndem Silber!

»Ich hätte schwören können, dass es ein Topf mit Gold war«, sagte sie schließlich, »aber da muss ich wohl geträumt haben. Ei ja, der Tausch ist noch besser; es wird viel weniger Mühe machen, sich darum zu kümmern, und man kann es nicht so leicht stehlen. Es hätte ’ne Menge Ärger gegeben, diese Goldstücke dort zu verwahren – ach ja, gut, dass ich sie los bin, und mit meinem hübschen Silberklumpen bin ich so reich, wie ich nur reich sein kann!«

Und sie machte sich wieder auf den Weg nach Hause und dachte sich voller Fröhlichkeit aus, was sie alles für großartige Dinge mit ihrem Geld machen würde. Es dauerte aber nicht sehr lange, da war sie wieder müde geworden und hielt aufs Neue an, um einen Augenblick oder zwei auszuruhen. Wieder drehte sie sich um und schaute nach ihrem Schatz, und sobald sie ihre Augen darauf richtete, schrie sie auf vor Verwunderung. »Du meine Güte!« sagte sie, »jetzt ist’s ein Klumpen Eisen! Na, das übertrifft alles, das ist wirklich gerade das Rechte für mich! Ich kann es verkaufen so einfach wie nur etwas und krieg einen Haufen Penny-Stücke dafür. Ei ja, Schätzchen, und das ist so viel handlicher als ’ne Menge von dem Gold und Silber, das mich in der Nacht nicht hätte schlafen lassen, weil ich immer gedacht hätte, die Nachbarn wollten mir’s rauben – aber das ist eine richtig feine Sache, die man bei sich zu Hause haben kann, kannst nie wissen, ob du’s nicht brauchen wirst, und verkaufen kann man’s – ei ja, einfach für ’ne Menge. Von wegen reich, ich werd mich im Geld wälzen!«

Und sie trottete wieder weiter und kicherte dabei über ihr Glück in sich hinein, bis sie dann einen Blick über die Schulter warf, »nur um sicher zu sein, dass das Ding immer noch da war«, wie sie zu sich sagte. »I du mein!« schrie sie, sobald sie es sah, »na, wenn das nicht verschwunden und zu einem großen Stein geworden ist! Aber, wie konnte er gewusst haben, dass ich gerade so etwas schrecklich nötig brauche, um meine Tür damit offen halten zu können? Ei, wenn das nicht ein guter Tausch ist! Schätzchen, das ist eine feine Sache, wenn man soviel Glück hat!«

Und in aller Eile, weil sie sehen wollte, wie der Stein im Eck an ihrer Tür aussehen würde, trottete sie den Hügel hinab und blieb unten stehen, neben ihrem eigenen kleinen Gatter. Als sie es aufgeklinkt hatte, drehte sie sich um und wollte ihr Halstuch von dem Stein lösen, der diesmal unverändert und friedlich neben ihr auf dem Pfad zu liegen schien. Es war immer noch hell genug, und sie konnte den Stein ziemlich klar sehen, als sie ihren steifen Rücken über ihn beugte, um das Ende des Tuches loszumachen; da aber, ganz plötzlich, schien er einen Sprung zu machen und einen Quieker, und in einem Augenblick wuchs er zur Größe eines großen Pferdes; dann warf es vier schmächtige Beine von sich und schüttelte zwei lange Ohren heraus, brachte einen Schwanz hervor und rannte davon, indem es mit den Beinen in die Luft ausschlug und lachte wie ein ungezogener, spottender Lausebengel.

Die alte Frau starrte dem Ding nach, bis es fast nicht mehr zu sehen war. »Na aber«, sagte sie schließlich, »ich bin doch wirklich der glücklichste Mensch hier herum! Stell dir vor, da sehe ich Hedley Kow so ganz allein für mich und gehe noch so frei mit ihm um! Ich kann dir sagen, ich komme mir ja so großartig vor.« Und sie ging in ihre Hütte und setzte sich ans Feuer, um über ihr großes Glück nachzudenken.

 

aus More English Fairy Tales, Joseph Jacobs

Märchen des Monats – Januar

Es war einmal ein alter König. Er war krank und musste nun bestimmen, welcher von seinen beiden Söhnen den Thron übernehmen sollte.

Um zu entscheiden, wer von den beiden dafür geeignet war, gab er jedem fünf Silberstücke und sagte: „Eure Aufgabe ist es, die Halle unseres Schlosses zu füllen. Wer von euch das Meiste für das Geld, das ich Euch gegeben habe bekommt, soll mein Nachfolger werden. Ihr habt bis heute Abend Zeit.“

Der erste Sohn kam an einem Reisfeld vorbei, wo die Ernte gerade mitten im Gang war. Er entschied, dass sich die Halle sehr gut mit Reistroh füllen ließe und verhandelte mit den Reisbauern, um für sein Geld ausreichend Reisstroh zu bekommen. Er konnte so viel Stroh kaufen, dass er damit die Halle bis unter das Dach füllen konnte. Da war er recht stolz auf sein Werk und ging zu seinem Vater.

„Ich habe die Halle bis unter das Dach mit Reisstroh gefüllt und damit die Aufgabe erfüllt. Du brauchst nicht mehr auf meinen Bruder zu warten. Mach mich zu deinem Nachfolger.“ sagte er.

„Noch ist der Abend nicht gekommen.“ sagte der Vater.

Als es bereits dunkel war, kam der andere Sohn und befahl, all das Reisstroh wieder entfernen zu lassen. Er nahm eine Kerze und zündete sie in der Mitte der großen, dunklen Halle an. Der Schein der Kerze erfüllte die ganze Halle mit Licht.

Da sprach der Vater: „Du sollst mein Nachfolger sein, denn du hast diese Halle mit dem gefüllt, was die Menschen brauchen.“

Ein Märchen von den Philippinen

Märchen des Monats – Dezember

Der Nusskaspar

Wenn man von Nürnberg aus nach Norden schaut, so stellt sich dem Auge das berühmte Knoblauchland dar. Dort liegen mehrere anmutige Dörfchen, die von den Nürnbergern eifrig besucht werden.
In einer dieser Ortschaften lebte vor vielen Jahren ein Bäuerlein, ‚Nußkaspar‘ genannt, weil auf seinen Bäumen die schönsten Nüsse wuchsen. Er trieb wie seine Nachbarn Gärtnerei und verlegte sich vorzüglich auf den Anbau von Knoblauch. Allein dem guten Mann missglückte fast alles, was er unternahm. Bald wurde er durch bedeutende Verluste in Schulden gebracht, bald von den Nachbarn bestohlen, dann wieder vernichteten Wind und Wetter seine Garten und Feldfrüchte, oder böse Buben holten ihm die Nüsse von den Bäumen.
Dieses andauernde Missgeschick verdross den Bauern endlich und nahm ihm die Lust, sich ferner zu plagen, zumal da er bemerkte, wie bei den Nachbarn alles aufs beste gedieh und ihr Wohlstand täglich zunahm. Daher wurde er nach und nach in der Ausübung seines Gewerbes lässiger, fluchte mehr als er betete, und ergab sich zuletzt dem Trunke, so dass er meistens, wenn er mit Knoblauch und anderen Gemüsen zur Stadt gefahren war, leicht an Geld, dafür aber mit schwerem Kopf nach Hause zurückkehrte. Durch diesen Lebenswandel wurde nicht nur sein Körper, sondern auch sein Vermögen so zerrüttet, dass er mehrfach Geld aufnehmen musste, schließlich von seinen Gläubigern hart bedrängt wurde und zu ihrer Befriedigung zuletzt bald ein Grundstück, bald irgend etwas aus seinem Hausrat zu veräußern genötigt war.
Wieder einmal war der Nusskaspar am letzten Tag des Jahres wie so oft bis zum späten Abend in der Stadt geblieben, hatte sich einen tüchtigen Rausch angetrunken und taumelte nun den Burgweg hinauf. Unweit der Stelle, wo Christus am Ölberg abgebildet ist, setzte er sich auf einen beschneiten Steinblock, um auszuruhen, und schlief ein. Die Zerrbilder getäuschter Hoffnungen umgaukelten ihn in wüsten Träumen, so dass er öfters auffuhr und grässliche Flüche ausstieß. Eben zeigte die Glocke vom nahen Sebaldusturm den Eintritt der Geisterstunde, als er abermals in die Höhe fuhr und in einem Zustande zwischen Schlaf und Wachen zähneklappernd vor sich hinmurmelte: »Will mich Gott nicht retten, so muss mir der Teufel helfen!«
Mit diesen Worten erwachte er, rieb sich die Augen und wollte aufstehen, allein ein gewaltiger Schrecken warf ihn auf seinen kalten Sitz zurück; vor ihm stand ein Mann in Jägertracht, der ihn anredete: »Ei, Alterchen, was treibst du hier in der frostigen Winternacht?«
Kaspar fragte gähnend: »Wo bin ich, Herr, und was wollt Ihr von mir?«
Darauf erwiderte der Jäger: »Ich hörte im Vorübergehen, dass du Hilfe brauchst, und ich will sie leisten, wenn es in meinen Kräften steht, aber – ich will von dir darum gebeten sein.«
Kaspar schilderte nun unter beständigen Verwünschungen seine traurige Lage, fiel auf die Knie und rief in unbegreiflicher Herzensangst: »Ich flehe Euch fußfällig an, helft mir, helft mir, und wäret Ihr der Böse selbst; mir gleich, wenn mir nur geholfen wird; denn Gott hat mich ohnedies verlassen.«
»Nun wohl,« entgegnete der Fremde, »wenn du mir versprichst, weder deinem Weib noch einem anderen Menschen auch nur eine Silbe davon zu verraten, so will ich dein Beschützer sein und dir helfen. Kehre getrost heim, pflücke von dem großen Nussbaum. der in der linken Ecke deines Gartens steht, so viel Nüsse, als dir beliebt; diese werden sich in Gold verwandeln und dich instand setzen, nicht nur deine Schulden zu bezahlen, sondern auch ohne Mühe und Arbeit gut leben zu können. Doch wisse, geht nur ein Wort von meinem Angebot über deine Lippen, so sinkst du in deine frühere Armut zurück, wirst ein Raub der Verzweiflung und sollst auch im Grab keine Ruhe finden. Du musst dann in jeder Silvesternacht deinem Grabe entsteigen und hier an dieser Stelle goldene Nüsse feil halten; ja, du wirst auch andere noch mit ins Verderben hinabziehen, und deine Seele ist mir verfallen.«
Mit diesen Worten verschwand die geheimnisvolle Erscheinung.
Daß der freundliche Helfer der leibhaftige Gottseibeiuns war, ist leicht zu erraten.
Kaspar war demnach in sehr schlimme Hände gefallen. Er taumelte noch halb trunken mit schlotternden Knien nach Hause. Sein Weib, das ohnehin zur Sorte jener Menschen gehörte, denen Zanken und Murren zur zweiten Natur geworden ist, empfing ihn vom Bett aus mit heftigen Scheltworten. Er aber blieb ruhig und dachte: »Schrei nur, du Zankteufel, soviel du willst; habe ich einmal die goldenen Nüsse, dann wirst du schon anders singen!« Damit nahm er eine Laterne, zündete das Licht an und schlich in den Garten hinaus. Hier stellte er sich vor den bezeichneten Baum und schielte hinauf, um zu sehen, ob die Nüsse wirklich von Gold seien. Endlich bestieg er zagend den Baum, griff zitternd nach einer der Früchte, füllte dann so schnell als möglich alle Taschen damit, und siehe, die Nüsse waren reines, funkelndes Gold. Darauf versteckte er seinen Schatz in der Scheune und ging zu Bett.
Bei Tagesanbruch stahl sich der steinreiche Ehemann, dessen Gewissen nun schon eingeschläfert war, still weg zum Geschenke des höllischen Jägers, um es teilweise in der nahen Stadt in Geld umzusetzen. Sodann zahlte er seine Schulden und lebte herrlich und in Freuden.
Aber dieses Glück sollte nicht lange dauern; denn der gute Nusskaspar vergaß im Taumel der Ausschweifungen nur zu bald, was er dem Teufel versprochen hatte. In einem traulichen Stündchen beichtete er seiner Frau, die sich durch den unvermuteten Wohlstand vollständig mit ihm ausgesöhnt hatte, den ganzen Hergang der Sache. Als er aber am nächsten Morgen sein Geld herbeiholen wollte, da war der Beutel federleicht und enthielt statt harter Taler nur Kohlenstaub, und anstatt der goldenen fanden sich nur natürliche und größtenteils wurmstichige Nüsse im Schrank. So von der Höhe des Glückes in das bitterste Elend hinabgeschleudert, wurde dem Kaspar das Leben eine unerträgliche Last.
Der Teufel hielt besser Wort als Kaspar; denn es ging alles in Erfüllung, was er für den Fall des Wortbruches vorausgesagt hatte. Als der Silvesterabend wieder anbrach, stand wirklich zur Mitternachtszeit ein kleines Bäuerlein in der Tracht der Knoblauchhändler mit einem Korb am Ölberg und ächzte unter verzweifeltem Händeringen: »Kauft Nüsse, kauft Nüsse!«
Viele Jahre nach diesem Ereignis saßen am Silvesterabend mehrere Bürger nicht weit vom Ölberg im Gasthaus zum Burggrafen bei einem Krug Weizenbier. Unter diesen war auch ein redseliger Zinngießermeister, der wegen seiner Klugheit in großem Ansehen stand. Die Unterhaltung drehte sich um die alte Sage vom Nusskaspar am Ölberg. »Aberglaube, heidnische Finsternis!« eiferte Meister Zinngießer, der Wortführer. »Wer wird so albern sein, an Teufel und Geister zu glauben?«
»Was, Nachbar?« fiel ihm ein belesener Zirkelschmied in die Rede, »habt Ihr denn nicht gelesen, daß Doktor Martin Luther dem Teufel das Tintenfass nachgeworfen hat? Ist Euch nicht bekannt, dass der Satan Jesum in Versuchung führte?«
»Das ist etwas anderes,« unterbrach ihn der Zinngießer, und gerade als er weiterreden wollte, erscholl von der Wanduhr die zwölfte Stunde. Da schlug der Meister unwillig auf den Tisch und schrie: »Damit ihr aber seht, daß an der ganzen Sache nichts ist und jeder ein Narr, der so unsinnige Dinge glaubt, so wollen wir auf den Ölberg gehen, um uns zu überzeugen, ob der Nusskaspar wirklich seine Nüsse feil hält. Mein Hab und Gut setz, ich daran, daß ich euch auslachen werde.«
Hierauf nahm er seine Pelzmütze und eilte der Türe zu; doch von den übrigen Gästen hatte keiner Lust, ihn zu begleiten. Stockfinster war’s, und nur der schimmernde Schnee erleuchtete die Umgebung. Da kam es dem Zinngießer wirklich so vor, als ob er in der Nähe des Ölberges die Gestalt eines Menschen wahrnehme, und er blieb stehen. Es fröstelte ihn, aber die Vorstellung, von den Freunden verspottet zu werden, wenn er unverrichteter Dinge zurück käme, flößte ihm Mut ein; er wollte der Sache auf den Grund gehen.
Also schritt der Zinngießer langsam näher und rief mit lauter Stimme: »Wer da?« – Keine Antwort! – Plötzlich stand ein kleines unheimliches Wesen ganz nahe vor ihm, stierte ihn mit Grabesaugen an und deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand in den vor ihm stehenden Korb. Unser Zinngießer stand wie an den Boden gewurzelt und kreischte mit kaum verständlichen Lauten : »Alle guten Geister loben Gott den Herrn!« Fast besinnungslos griff er sodann in den Korb, nahm daraus, was er mit seinen zehn Fingern fassen konnte, und stürzte ohnmächtig zusammen.
Als er wieder zur Besinnung gekommen war, blickte er um sich.
Aber er sah kein Wesen mehr, weder vor noch hinter sich. Jetzt fasste er wieder Mut und schämte sich seines Schreckens. Doch welches Erstaunen trat an die Stelle der Furcht, als er auf den schneebedeckten Boden blickte und ihm glänzendes Gold entgegen funkelte! Schnell raffte er die goldenen Dinger zusammen und eilte dem Burggrafen zu. Die Gesellschaft begrüßte ihn, als wäre er von den Toten auferstanden, und war sehr gespannt zu hören, was er erlebt habe. Und der Meister erzählte sein Abenteuer, indem er zum Beweis einige goldene Nüsse aus der Tasche nahm und auf den Tisch hinrollte.
Da war auf einmal alle Großsprecherei verstummt; denn nicht ohne heimliches Grauen sah man die glänzenden Beweise vor Augen. Der Zinngießer aber entfernte sich bald und suchte freudetrunken sein Nachtlager auf. Allein der Schlaf floh ihn diese und noch manch andere Nacht; denn ihn quälten Zukunftspläne und die Sorge um die Vermehrung des unheilvollen Geldes. Mit seinem Glück war zugleich das Unglück in seine vier Wände eingezogen. Aus dem zufriedenen Meister war ein griesgrämiger Sauertopf geworden. Durch unkluge Unternehmungen verlor er manches schöne Kapital, und nach wenigen Jahren bewahrheitete sich an ihm das Sprichwort: Wie gewonnen, so zerronnen. Doch als er immer ärmer wurde, machte die Not seinem jammervollen Leben ein Ende.
Und es erfüllte sich des Teufels Vorhersage, der Nusskaspar werde auch noch andere mit ins Verderben ziehen.

Märchen des Monats: November

Die Beutelratte, die sich fledermauste

Es war einmal eine Beutelrate, die war ihr altes Leben müde, da sagte sie sich: „ Ich bin zu alt für dieses Rattenleben und zu langsam, meine Beine sind schwer und wollen mich nicht mehr. Es ist Zeit, dass ich mich verwandele. Aber was soll ich werden? Ich will im Dunkeln meine Wege finden, ohne dass man mich sieht. Soll ich also eine Schabe werden? Lieber nicht. Die Leute würden mich verachten und zertreten. Soll ich eine Schlange werden? Ach nein, dann wird man mich fürchten und hassen.
Ich will eine Fledermaus werden! Die fliegt durch die Nacht und frisst reife Bananen!“
Und dann ging die alte Ratte daran, sich zu fledermausen. Mit ihrem langen Schwanz und ihren Hinterpfoten hielt sie sich fest an einen Zweig und hängte sich Kopf nach unten auf, wie Fledermäuse das tun. Aber da bekam sie einen Schluckauf.
Eine Fledermaus, die vor über flog, hörte, wie sie schluckte und schluckte. Sie flatterte um die Ratte herum. „Was machst du denn da ?“, fragte sie , „willst du dich über mich lustig machen?“ – „Nein“, sagte da die alte Ratte, „ ich will mich nicht über dich lustig machen. Ich will mich fledermausen.“ – „Wir Fledermäuse haben keinen Schwanz, sagt die Fledermaus. Da warf die Ratte ihren Schwanz ab und hielt sich nur noch mit den Hinterpfoten fest. – „Wir Fledermäuse brauchen keinen Beutel!“ – Da warf die Beutelratte ihren Beutel fort. – „Wir Fledermäuse haben Flügel!“ – Da dehnte und dehnte die Beutelratte ihre alte Haut und spannte neue Flügel aus. Die Fledermaus flog davon und sagte zu ihrem Volk: „ Denkt euch, was ich gesehen hab’. Dahinten ist eine Beutelratte, dich sich fledermaust. Sie will sich verwandeln, um mit uns zu leben. Lasst sie in Ruhe, dass sie sich verwandeln kann.“ Da riefen alle Fledermäuse: „ Eine Ratte, die sich fledermaust! Eine Ratte die sich fledermaust! Los, los, das müssen wir sehen!“, und sie flogen alle dorthin und sahen die Beutelratte, die da hing und sich fledermauste.
„Ratte, Ratte, hast du dich schon verwandelt?“ fragten sie – „Ja, verwandelt hab’ ich mich schon“, sagte die Ratte, „und jetzt möchte ich fliegen. Aber ich fürchte mich.“ – „Fürchte dich nicht, Ratte!“, riefen die Fledermäuse. „Fliege! Es ist wunderschön.“ Die alte Ratte wollte gern fliegen, aber sie fürchtete sich und zitterte und war ganz schwer vor Angst und blieb hängen. „ Hab keine Angst“, riefen die Fledermäuse, „ wir werden dich das Fliegen lehren. Breite nur deine Arme aus, lass deine Flügel schwingen und dann lass dich fallen – und du wirst fliegen!“
Da spannte die alte Ratte ihre neuen Flügel aus, sie lässt sie schwingen, lässt sich los – sie fliegt! „Wunderschön ist es!“, ruft sie und fliegt davon durch die Nacht. Wir können sie nicht sehen, aber sie sieht uns auch im Dunkeln. Sie findet Bananen, mehr als genug, und die reifen, die frisst sie.

Märchen des Monats: Oktober

Die Wahrheit und das Märchen

Die Wahrheit ging durch die Straßen ganz nackt, wie am Tag ihrer Geburt. Kein Mensch wollte sie in sein Haus einlassen. Jeder, der sie traf, flüchtete voller Angst vor ihr. Eines Tages ging die Wahrheit wieder in Gedanken versunken durch die Straßen. Sie war sehr betrübt und verbittert.

Da begegnete sie dem Märchen. Das Märchen war geschmückt mit herrlichen, prächtigen und vielfarbigen Kleidern, die jedes Auge und jedes Herz entzückten. Da fragte das Märchen die Wahrheit: „Sage mir, geehrte Freundin, warum bist du so bedrückt und drehst dich auf den Straßen so betrübt herum?“ Da antwortete ihm die Wahrheit:

„Es geht mir sehr schlecht. Ich bin alt und betagt und kein Mensch will mich kennen.“

Hierauf erwiderte das Märchen: „Nicht weil du alt bist, lieben dich die Menschen nicht. Auch ich bin alt, und je älter ich werde, desto mehr lieben mich die Menschen.

„Siehe, ich will dir das Geheimnis enthüllen: Sie lieben es, dass jeder geschmückt ist und sich ein wenig verkleidet. Ich werde dir solche Kleider borgen, mit denen ich angezogen bin, und du wirst sehen, dass die Leute auch dich lieben werden.“

Die Wahrheit befolgte diesen Rat und schmückte sich mit den Kleidern des Märchens. Seit damals gehen Wahrheit und Märchen zusammen, und beide sind bei den Menschen beliebt.

Jüdisches Volksmärchen